Lauter liebe Landeier

Im beschaulichen Dorf Au war es nachts so ruhig, dass sich sogar Autos nicht getrauten über die leer gefegten Straßen zu brummen.„Mäh äh äh äh!“, blökte die Ziege Grete in die Stille der Nacht hinaus.

Oma Paula Piepmatz wälzte sich schlaflos im Bett. „Sei endlich leise, du nervige Ziege!“, stöhnte sie und vergrub ihren Kopf unterm Kissen. Oma starrte ins Dunkel. Wie von fern tönte Gretes gedämpftes Klagen. Sie war hungrig!

In Omas Garten wuchs ein prächtiger alter Apfelbaum mit Gravensteiner Äpfeln, Gretes Lieblingsspeise. Aber jetzt im Frühling gab es im Keller keine eingelagerten Äpfel mehr. Alle Äpfel waren ratzeputz weggefuttert!
Grete vermisste das leckere Obst und weigerte sich beharrlich, etwas anderes zu fressen. Heute hatte sie Gras gekaut: „Bäh äh spuck!“ Und auf Heu herumgebissen: „Bäh äh spuck!“ Grete probierte Blumen, doch nichts schmeckte!
„Ja, ja, meine Grete und ihre heiß geliebten Äpfel!“, seufzte Oma und musste unwillkürlich schmunzeln, als sie an letzten Herbst dachte. Damals hing der Baum so voll mit Äpfeln, man sah kaum noch die Blätter. Trotzdem gab‘s immer Ärger mit der Ziege!

Allmorgendlich war Grete so überstürzt zum Apfelbaum geeilt, dass ihr Euter heftig in Schwingungen geriet und wie eine Alarmglocke am Bauch hin und her schlug. Blitzschnell hatte die Ziege in jeden herumliegenden Apfel reingebissen. Omas Enkelkindern Kay, Nanne und Ben war der Appetit auf Äpfel gründlich vergangen!
Sie schimpften: „Igitt, Grete hat alle Äpfel angebissen!“ So hatte sich die Geiß täglich eine Extraportion Äpfel gesichert.

„Mäh äh äh äh!“ Schlaftrunken richtete sich Oma Paula im Bett auf und brummte:

„Verwöhnte Zicke! Jedes Frühjahr meckert sie am Fressen herum! Ich muss Grete beruhigen, sonst jammert morgen meine Nachbarin, sie habe wieder nicht schlafen können.“ Nachbarin Rita beschwerte sich ständig über Paulas stinkende und laute Tiere. „Unverschämtheit“, schnaubte Oma entrüstet, „meine Tiere stinken nicht! Nur mein Misthaufen muffelt ein bisschen! Demnächst beklagt sich Rita noch über zwitschernde Amseln auf meinem Birnbaum.“

„Mäh äh äh äh!“, meckerte Grete, und nochmals ener gischer: „Mäh äh äh äh!“ Seufzend schnappte Oma ihre Wolldecke und begab sich zur Ziege in den Schuppen neben dem Haus. Mit frischem, würzigem Heu richtete sie ein Lager und legte sich neben die Geiß. Sie streichelte Grete und sang leise und besänftigend:

Ja meine Grete macht mir Freude Ist ein ganz besondres Tier morgens läuft sie schnell zur Weide leckere Äpfel sucht sie hier Meck, meck, meck

Aufmerksam blickte Grete Oma Paula mit ihren klugen Augen an. Oma knipste die Taschenlampe aus. Im Kopfkissen aus Heu schlummerte süßer Wiesenblumenduft.

Tief atmete Oma wohlige Blütenträume. Endlich schliefen beide ein.

„Kicherieich!“, krähte der Hahn. Schüchtern blinzelte die Sonne durch die Holzritzen des Schuppens.

„Piepe Oma! Piepe Oma, wo bist du?“ Piepe Oma, so hieß Paula bei ihren Enkelkindern. Verschlafen rappelte sich Oma auf. „Oh nein, ich habe ganz vergessen, dass Bens Kindergarten heute geschlossen ist!“, stöhnte sie; „Ben, hier bin ich, bei Grete!“
Normalerweise ging Ben nachmittags zu Oma, denn Papa arbeitete. Mama war gestorben, als Ben noch ganz klein gewesen war.

„Ist es schon so spät?“, wunderte sich Oma, „im weichen Heu habe ich geschlafen wie eine Ratte!“ „Darf ich auch mal im Stall schlafen?“, wollte Ben wissen. „Klar, wenn Nanne und Kay Schulferien haben, übernachten wir alle im Stall!“, versprach Oma. Sie frühstückten in der Küche.
„Du kannst mir nachher helfen beim Hühner baden“, sagte Oma. „Die Hühner sind doch gar nicht dreckig“, rief Ben erstaunt. „Trotzdem tut ihnen das Baden gut“, versicherte Oma, „zufriedene Hühner legen schmackhafte Eier.“

Ben kannte sich mit Hühnern aus und war der beste Hühner fänger. Kay war zu lang und schlaksig und darum pflückte er die Hühner von der Stange. Pech, wenn alle am Boden hockten! Nanne verscheuchte die Hühner, statt sie zu fangen. Sie flatterten dann wild im Kreis herum, wie ein Hühnerwirbelsturm. „Ich schnappe zuerst den fetten Gockelhahn“, entschied Ben. Die meisten Hennen hüpften freiwillig zum Hahn in den Korb. „Nur Bessi und Trudi lassen sich nie erwischen!“, klagte Oma. Keuchend hetzten Ben und Oma die beiden Hennen im Hühnerstall herum.

Bessi witschte durch Omas Beine und wäre fast durch die Hühner klappe ins Freie entkommen, da hechtete Ben hinterher und erhaschte sie. Zack, endlich bekam Oma auch Trudi zu fassen! Dabei liebten die Hühner das lauwarme Bad. Sie schlossen genüsslich ihre Augen während sie geborgen in Omas Händen im Wasser lagen. Manche schliefen sogar ein! Sanft streichelnd wusch Ben ihre meist schneeweißen Federn. Trudi war die einzige goldbraune Henne. Die Hühner waren Omas ganzer Stolz! Es klingelte. „Gibt‘s noch Eier?“, fragte Nachbarin Rita Rettich. Kritisch musterte sie Oma Paula: „Du hast Heu im Haar!“ Zerstreut pflückte Oma einige Halme aus ihren widerborstigen, grauen Stoppeln. „Warte ich hole Eier aus dem Hühnerstall.“ Rita stand im Flur. „Gockockock!“, gackerte es. Neugierig lugte Rita um die Ecke: im Wohnzimmer saßen alle gebadeten Hühner in Handtüchern eingewickelt oben auf dem Schrank. Sie waren nebeneinander aufgereiht wie auf der Hühnerstange, äugten von oben herunter und kakelten: „Googockook, googogogockgook!“ Rita schüttelte missbilligend den Kopf. „Wo gibt’s denn so was? Hühner im Wohnzimmer!“ Als Oma Paula zurückkam verkündete Rita: „Also, du wirst immer närrischer! Hühner baden! So ein Heck meck! Und Hühner auf dem Wohnzimmerschrank trocknen, unmöglich!“ Abfällig schnaubend walzte Rita zur Tür hinaus. Paula grinste und rief hinterher: „Aber die guten Landeier von meinen glücklichen Hühnern lässt du dir schmecken! Kauf doch Eier im Supermarkt, wenn dir meine Hühner nicht dreckig genug sind!“